Der Ton ist rauer geworden – Polarisierung und Spaltung haben in Deutschland und Europa zugenommen. Uns scheint: Gesellschaftliche Konflikte werden zunehmend auf eine Art und Weise ausgetragen, die über den legitimen Rahmen widerstreitender Interessen hinausgeht. Radikalisierungsprozesse auf individueller und gesellschaftlicher Ebene nehmen zu und verstärken sich womöglich gegenseitig.
Wie können offener Austausch, gleichberechtigte Teilhabe und gesellschaftliche Befriedung verbessert werden? Wie können Positionen kritisiert werden, ohne zugleich die sie vertretenen Menschen als Menschen herabzuwürdigen? Kurz: Wie bleiben wir im Gespräch?
Dies haben wir, gemeinsam mit unseren eingeladenen Experten am Donnerstag, 29. August 2024, im KulturBahnhof in Bad Düben diskutiert.
Die Veranstaltung bot mit der Teilnahme von 15 Personen aus den Bereichen Erwachsenenbildung, Naturschutz/Bildung für Nachhaltige Entwicklung, Jugendförderung, der regionalen Wohlfahrtsträger, Ehrenamtsnetzwerken und Interessierten der Region eine gute Grundlage, sich engagiert und kontrovers mit dem Thema der Veranstaltung auseinanderzusetzen.
Stefan Rochow, ehemaliger NPD-Funktionär und Aussteiger, orientierte seinen Beitrag vor dem Hintergrund der für ihn besonders wichtigen Frage: Wie entsteht Radikalisierung?
Mit seinen eigenen erlebten Erfahrungen als Jugendlicher und junger Erwachsener – Rochow fungierte beispielsweise als stellvertretender Wahlkampfleiter der sächsischen NPD im Jahr 2004, als diese mit 9,7 Prozent ihr bestes Ergebnis überhaupt erzielte – und seiner Erfahrungen als Regionalleiter von EXIT, einer Organisation für Aussteiger aus extremistischen Strukturen, näherte er sich dieser Frage an. Als zentral arbeitete er Unzufriedenheit und Unmut heraus, gerade auch im Bezug auf die Geschwindigkeit und den Umfang globaler und gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, die ein hohes Enttäuschungspotential mit sich brächten.
Gerade diese Prozesse können Radikalisierung vorantreiben, da diese häufig aus der Projektion einer idealisierten Gesellschaft entsteht, von der sich die heutige — als kaputt wahrgenommene — fundamental unterscheidet, was als riesige Ungerechtigkeit und als zu bekämpfendes Problem wahrgenommen wird. Wer unzufrieden ist, sucht sich andere, ebenfalls unzufriedene Gleichgesinnte und wird dadurch in seiner Ablehnung des Anderen bestätigt. Solche Entwicklungen hin zu in sich geschlossenen Kommunikations- und Meinungsblasen sind heute aufgrund technologisch und sozial-medialer Fortschritte um ein Vielfaches einfacher möglich als früher. In solchen Blasen kann sich der Eindruck verstärken und verfestigen, dass man einen Zugang zu „der“ „einen“ Wahrheit entdeckt habe und willens und verpflichtet sei, diese in die Welt zu tragen.
Ebenso wurde das Phänomen der zunehmenden Popularität der AfD bei Jungwählerinnen und Jungwählern thematisiert: Junge Menschen, so der Versuch der Erklärung der Teilnehmenden, finden sich insbesondere im ländlichen Raum in Strukturen wieder, in denen ihre Bedürfnisse nur unzureichend Entfaltungsmöglichkeiten finden.
Hier habe auch die bisherige Politik versagt, die nicht nur den ländlichen Raum vernachlässigt hat (unzureichende Daseinsvorsorge), sondern auch die Zukunftsängste und Sorgen der jungen Menschen nicht ausreichend ernst nimmt. Dies drücke sich beispielsweise in unterschiedlichen Jugendprotesten und deren empfundener Wirkungslosigkeit aus und begründe womöglich Formen der Radikalisierung hin zu denen, die vorgeben, zuzuhören und die Dinge zu ändern. Ganz allgemein entwickle sich die Gesellschaft hin zu einer zunehmen ungerechteren, was womöglich bei vielen auch jungen Menschen den Wunsch nach einer starken Hand und drastischen Veränderungen stärkt.
Stephan Pecusa, Diakonie-Pfarrer in Delitzsch, orientierte seinen Beitrag an den Möglichkeiten der Gemeindearbeit, Menschen untereinander und mit sich selbst wieder ins Gespräch zu bringen. Dabei betonte er die Wichtigkeit sowohl des engen Nahbereichs der Menschen als auch der Orientierung an etwas, was den Menschen gemeinsam ist – als Rahmen für Gespräche, Diskussion, Reflexion.
Diesbezüglich stellte er drei Themen vor, die Menschen miteinander verbinden und auch aus der Einsamkeit führen können: Trauerfeiern, Sterbebegleitung und ein gemeinschaftliches Projekt einer Freien Schule. Hier beschrieb er die Potentiale, die in tradierten Formaten im Umgang mit existentiellen Ereignissen liegen, die allen gemeinsam sind und Gemeinschaftlichkeit, Zuhören und tiefgängige Verständigung fördern können. Ebenso können gemeinsame Projekte mit Blick auf gemeinsam geteilte biographische Phasen Möglichkeiten schaffen, jenseits tagespolitischer Streitigkeiten Verständigung und Gemeinsamkeit wieder aufzubauen.
In der Diskussion wurde auch kontrovers darüber gesprochen, inwieweit die Gemeinschaft vor Radikalisierungsprozessen schützt und schützen kann. Selbst, wenn die Gemeinschaft beglückend ist und aus der Einsamkeit herausführt, muss das nicht notwendig das friedliche Miteinander fördern. Hier könnten aber die Erfahrungen von Stefan Rochow Kanäle aufzeigen, um Gemeinschaft jenseits von Radikalisierung zu schaffen.
Als ein Fazit der Veranstaltung überlegten die Teilnehmenden im anschließenden Gespräch auch, wie Veranstaltungsformate aussehen müssten, um Kommunikation und Verständigung zu fördern. Als grundsätzliche Überlegung ergab sich dabei: Solche Formate müssen etwas aufgreifen, was die Menschen bewegt und aufeinander bezieht. Sie sollten auch lebensweltnah, aufsuchend und nicht belehrend sein. Entsprechende Angebote müssen also auch selbst zu den Menschen hingehen.
Die Diskussion machte deutlich, dass Radikalisierung eine komplexe Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bedingungen ist und wir womöglich das große Ganze in Frage stellen müssen, wenn wir an den Ursachen von Radikalisierung herankommen wollen.
Wir danken allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die fruchtbare Diskussion und ihre Mitwirkung an diesem WONOS-Thementag!